Aktuelles Vorwort vom 25.01.2016: Meinen Neujahrsgruß hatte ich am 2. Januar fertig geschrieben, aber noch nicht verschickt. Denn es kamen täglich neue Nachrichten, die ich nicht einfach ausblenden kann, aber erst einfach verarbeiten musste.
Nein, es hat gar nicht gut begonnen, das neue Jahr. Wenige Tage nach Weihnachten („Friede auf Erden!“) überschlagen sich die schlechten Nachrichten: Gewaltexzesse an Silvester in Köln, Bielefeld und anderswo, Hilflosigkeit nicht nur der Polizei, Mordanschläge in Istanbul, neue Massaker des IS & Co., türkische Militäraktionen gegen Kurden, verbale Aufrüstung in Politik und Medien gegen Flüchtlinge, Hass-Kampagnen in den „Sozialen“ (?) Medien und fast täglich 1-3 Anschläge in Deutschland auf Migranten und Flüchtlingsunterkünfte. Die Liste ließe sich leider noch lange fortsetzen. Es macht sehr besorgt.
Hinzu kommen Nachrichten aus der Wirtschaft, vor allem der Finanzwelt, die viele verunsichern. (Mehr dazu in Kürze in einem Extra-Beitrag.)
2016 wird ein sehr schwieriges Jahr, in dem sich vieles entscheiden wird – so oder so. Wichtig ist, dass wir uns darüber austauschen und eine Haltung dazu haben, was vor sich geht. Wenn die Angst, Hass und Gewalt regieren, kommt nichts Gutes dabei heraus. „Angst essen Seele auf“ hieß der Film von R.W.Fassbinder, der mich 1974 beeindruckt hat und der immer noch aktuell ist.
[Den folgenden Text vom 2. Januar habe ich trotz allem bewusst nicht verändert.]
Liebe Freundinnen und Freunde, werte Kundinnen, Kunden, Geschäftspartnerinnen und –partner,
Haben Sie die Feiertage so verbringen können, wie Sie es wollten? Im Kreis Ihrer Familie oder bewusst abseits des Alltags, mit oder ohne religiöse Einkehr, laut oder leise? Ist es nicht gut, dass wir die Freiheit haben, so zu leben, wie wir es für uns jeweils als richtig empfinden? Dass diese Vielfalt unser Zusammenleben bereichert und einigermaßen stabil hält?
Das war nicht immer so und ist keineswegs selbstverständlich. Anderswo auf der Welt sowieso meist nicht. Wir sollten dies wertschätzen und verteidigen.
Das außergewöhnlich turbulente Jahr 2015 hat viele scheinbare Gewissheiten in Frage gestellt. Viele hat es in Angst versetzt. Angst kann aber lähmen, wenn man nicht um die Ursachen weiß und nach Antworten sucht. In einer komplexen Welt sind die Lösungen zwangsläufig nicht einfach zu finden und umzusetzen.
Wer behauptet, alles sei eigentlich ganz einfach, weiß es nicht besser, belügt sich und andere. Der Wunsch nach einer klaren Einteilung in Gut und Böse ist zwar verständlich, führt aber in neues Unglück. Das wissen wir aus der Geschichte in Deutschland und aus der Gegenwart in vielen Teilen der Welt.
Vor einem Jahr noch wähnten wir uns in Deutschland auf einer Insel der Seligen. Die Wirtschaft ist so robust, dass andere uns darum beneiden. Bei uns muss niemand verhungern oder Angst haben, dass sein Haus bombardiert wird. Was wir im Alltag nur zu gern ausblenden: Unser Wohlstand in Mitteleuropa beruht auf der Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur hier und vor allem andernorts.
Unsere Bekleidung wird nicht mehr in der Leineweberstadt Bielefeld produziert, sondern unter furchtbaren Bedingungen z.B. in Bangladesh. Die Rosen werden von Plantagen in Kenia eingeflogen. Der deutsche Fleischkonsum von über 60 kg pro Einwohner und Jahr ist nur möglich und bezahlbar, wenn die Tiere in Massen und unter Einsatz von Antibiotika zur möglichst schnellen Schlachtreife gebracht werden. Dafür braucht es immer mehr Flächen für den Anbau der Futtermittel, auch auf Kosten des Regenwalds.
Die Fortsetzung des Kolonialismus bringt neues Unrecht, Not, Tyrannei und Kriege hervor. Durch die Medien bekommen wir eine Ahnung davon. Ganze Staaten sind mittlerweile kollabiert, und eine Hoffnung auf baldige Besserung ist nicht in Sicht.
Es gibt in der Physik und in der Natur Kipp-Punkte. 2015 war so ein Jahr für Millionen in Syrien, Irak und Afghanistan. Hunderttausende riskierten Leib und Leben über das Meer dorthin, wo sie auf eine Chance zum Über-Leben hoffen. Insgesamt waren noch nie seit dem 2. Weltkrieg so viele Menschen auf der Flucht – mehr als 60 Millionen. Dürfen wir uns wundern, dass ein Teil davon auch bei uns Zuflucht sucht?
Wir dürfen froh sein, dass wir in einem Land leben, dass sich nicht (wie andere in Europa) abschottet, sondern die Zuflucht Suchenden willkommen heißt und sich bemüht zu helfen. Das ist in einem Wohlstandsland nicht selbstverständlich. Und leider legt diese Herausforderung auch eine andere, eine hässliche Seite in der Mitte unserer Gesellschaft offen: Fremdenhass, Rassismus und rohe Gewalt.
Unsere schöne Wohlstandswelt ist sehr fragil. Ebenso wie unser kapitalistisches Wirtschaftssystem auf keinem stabilen Fundament ruht. Erst vor wenigen Jahren (2008) ist es mit vielen Billionen vor dem Zusammenbruch vorläufig (!) bewahrt worden. Europa würde ohne die EU schon längst nicht mehr die Rolle spielen. Dieser Europäischen Union mangelt es zurzeit jedoch an Europa und an Union, wie Kommissionsprädient Juncker erst kürzlich feststellte. In diesen Tagen sieht es leider so aus, als ob Europa nicht einmal mehr eine Idee ist, die von allen getragen wird. Das muss uns sehr besorgt machen! 2016 wird ein entscheidendes Jahr für die Zukunft Europas werden. Das hängt nicht nur von der Einsicht und dem Willen der Politiker ab, sondern auch von uns Menschen, von der Zivilgesellschaft.
Trotz aller schlechten Nachrichten gibt es Gründe zur Hoffnung, die uns Mut machen. Zum Beispiel:
- Da ist zum einen die Empathie und das Engagement der Vielen für die zu uns Geflohenen.
- Zum anderen zeigt sich (bis jetzt!) die Mehrheit unserer Mitbürger*innen widerständig gegen schlichten Populismus von rechts. (Ob Angela Merkel ihre grundsätzliche Haltung durchhält, ist zur Stunde noch nicht ausgemacht.)
- Im Dezember haben sich die Vertreter von 195 Staaten dazu verpflichtet, alles gegen den fortschreitenden Klimawandel zu tun, damit die Erde auch für unsere Kinder, Enkel und Urenkel ein Ort zum Leben bleibt. Damit dies keine leeren Worthülsen bleiben, müssen wir alle etwas tun. Es ist höchste Zeit, aber wir können es schaffen.
- Viele Menschen engagieren sich, damit unsere Gesellschaft nicht weiter auseinander driftet.
- Und nicht zuletzt: Immer mehr Menschen wollen, dass ihr Geld nicht dem sinnfreien Profit einzelner dient, sondern für eine nachhaltige Entwicklung eingesetzt wird.
Die Aussichten für 2016? Der libanesisch-amerikanische Ökonom und Philosoph Nassim Taleb spricht davon, dass wir Strategien der Anti-Fragilität, die uns in die Lage setzen, mit Unsicherheiten zukunftsfähig umzugehen – in der Wirtschaft, im Zusammenleben, bei der Geldanlage und überhaupt im Leben. In einer offensichtlich immer fragiler werden Welt braucht es vor allem eine klare Haltung für Menschlichkeit, gegen Dogmatismus und Gewalt. Von Mahatma Gandhi ist die Botschaft überliefert: Sei Du selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen, dass wir gesund und zufrieden, mit Herz, Verstand und Anstand durch das neue Jahr kommen.
Viele Grüße aus Bad Salzuflen
Ingo Scheulen